Egal, was auf der Welt geschieht: Die deutsche Politik schreckt vor den kleinsten Zumutungen zurück. Aber ist das Volk wirklich so selbstsüchtig, wie seine Vertreter meinen?
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Neulich sagte der FDP-Verkehrsminister Volker Wissing im morgendlichen Radiointerview mit dem Deutschlandfunk etwas Denkwürdiges, das die Menschheit nicht so schnell vergessen sollte. Eigentlich hätten in dem Augenblick alle Deutschen mindestens für Sekunden den Atem anhalten und die Vögel mit ihrem Piepsen innehalten müssen (denn die Vögel betrifft es ähnlich wie die Menschen), und vor allem für die Autos wäre ein Probe-Stopp angemessen gewesen. Der Minister der Partei, die gezielt Politik für jene drei Prozent Wähler macht, die nicht nur ihr Auto lieben, sondern auch glauben, dass diese Liebe über allem steht (als hätte Paulus im Korintherbrief geschrieben: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die bedingungslose Autoliebe ist die größte unter ihnen), dieser Mann erklärte, dass CO2-Emissionen nichts Abstraktes seien, sondern sich konkret aus dem Verhalten der einzelnen Menschen zusammensetzen, also auch aus dem Autofahren seiner Auto-über-alles-Wähler. Was nun anstünde, sei ein Autofahrverbot am Wochenende.
Wie kann das zugehen?
Denn all das ist komplett richtig, und man wünscht es sich ja zutiefst, dass die liberale Partei aufhört, in der Regierung als fesche Oppositionspartei und freche Lobbygroup aufzutreten, man wagte in dieser frühen Morgenstunde plötzlich zu hoffen, dass die Liberalen damit beginnen, Verantwortung zu übernehmen. Ein Autofahrverbot gab es schon mal in schweren Zeiten, die Westdeutschen haben das 1973 gut verstanden. Es betraf geopolitische Gefahren, vielen dämmerte auch, dass es um die ökologischen Grundlagen des Lebens ging. Die Regierung gewann damals an Autorität, weil sie in der Lage war, das Notwendige und offensichtlich Gebotene umzusetzen. Diese Sonntage sind mit einem geradezu zauberhaften Glanz ins kollektive Gedächtnis eingegangen, mit Stolz, mit Fahrrad auf der Autobahn, Kinder auf Rollschuhen. Jugendliche zelten in den Bergen auf dem Asphalt. Mit: Wir haben das geschafft. Die Republik: Das sind wir.
Aber der FDP-Minister meinte das gar nicht. Er ging vielmehr fest davon aus, ein autofreier Sonntag sei das ultimative Horrorszenario der Deutschen. Noch verblüffender: Er glaubt, dass der Hinweis, CO2 werde von Einzelpersonen emittiert, die Menschen nicht motiviert, sondern, im Gegenteil, eine Emissionsreduktion unmöglich macht. Emissionsreduktion sei nur möglich, so die Subbotschaft, wenn sie für die Bürgerinnen und Bürger zu hundert Prozent zumutungslos abläuft. Alles, was Herr Wissing sagte, war eine Farce, eine Drohung, mit der er die Koalitionspartnerinnen dazu zwingen wollte, von seinem Verkehrssektor keine angemessenen Einsparungen mehr zu verlangen.
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Das ist die eigentliche Nachricht dieser FDP-Groteske.
Denn auch wenn die Umfrageergebnisse das nicht hergeben: Die FDP steht für so viel mehr als für ihre drei bis vier Prozent Wähler. Sie ist das hässliche Unterbewusstsein der Deutschen, das permanent das vernünftige Über-Ich torpediert. Und Olaf Scholz ist ganz dabei: Er lässt die liberale Regierungspartei so umfassend gewähren und schubst dafür immer wieder die Grünen unter den Bus (wie oft kann man eigentlich unter den Bus geschubst werden, bis man tot ist oder Schluss macht?). Das nährt den Verdacht, der Kanzler nutze die FDP als Bauchsprechpuppe: Sie redet das, was er, der Schwarze-Null-Hardliner und Null-Zumutungen-Kanzler, in dieser verblüffenden Plattheit nicht sagen kann.
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Dafür gibt es eine Erklärung: die Populisten, deren Kernkompetenz dieses Downgrading ist, die Abwärtsspirale der niedrigen Instinkte. Sie behaupten immer lauter, dass Demokratie ihre Legitimität aus einem plebiszitärvulgären Volkswillen bezieht – das Volk sei ein launischer Souverän, jederzeit zu Wutausbrüchen bereit. Die Regierungen müssten liefern und das Volk bei Laune halten. Im Osten fügen sie gern hinzu: Wozu sei man 1989 auf die Straße gegangen? Dieses Demokratiekonzept ist nicht originell, Populismus ist immer eine Versuchung in Demokratien. Aber liberale Demokratien haben sich bisher als überlegen und fair und schlagkräftig erwiesen, weil sie den Populismus eingeschränkt und das politische System so arrangiert haben, dass – um im Bild zu bleiben – das Unterbewusstsein nicht das Über-Ich ausschalten konnte (und wenn doch, ging es böse aus).
Freiheit, so hingegen der Populismus, sei die Freiheit, Egoismus möglichst ungestört ausleben zu können (und, ja, warum eigentlich nicht dafür auch noch vom Staat unterstützt zu werden mit Steuergeschenken, Pendlerpauschalen, Dienstwagenprivilegien, Tankrabatten, E-Fuel-Subventionen für alle Porsches aller Christians). Selbstverständlich hat diese Ego-Freiheit nichts mit der Freiheit des anderen zu tun. Ich impfe mich nicht, nein, meine Impfung mach ich nicht. Auf Autofahrten und Flüge verzichten, nur weil deswegen andere eine saubere Luft und eine ruhige Wohnung haben, auf CO2-Ausstoß gar, weil die Kinder auch mal ein gutes Leben führen wollen, Waffen liefern, obwohl die Öldiktaturen (scheinbar) nur den andern wehtun?
Diese Suppenkasper-Freiheit dringt in alle Poren der Politik ein. Immer mehr Politikerinnen und Politiker reden ihren Text. Cem Özdemir, einer der begabtesten Politiker der Republik und einer der ganz wenigen Grünen mit dem kühnen Bekenntnis zum Vegetarismus, spricht ihn in jedes Mikrofon: Essen Sie Fleisch, als ob es kein Morgen gäbe (bitte, bitte, bitte); Krieg gegen Putin – puh, erklärten neulich die Uckermärker CDU-Politiker, darauf hätten ihre Wähler echt keine Lust mehr. Die Menschen wollen keine Migration, tja, dann müssen wir ihnen Massenabschiebungen versprechen, selbst wenn das Versprechen in allen Dimensionen keinen Sinn ergibt. Demokratie wird zum plebiszitären Amor Fati. Sie wird auf den Kopf gestellt zur völligen Stagnation, und um suppenkasperisch mit den Beinen in der Luft zu strampeln. Die FDP übernimmt direkt für ihre Vielleicht-doch-noch-Wähler, im Tax-Life-Balance-Rechner durchzukalkulieren, was noch zumutbar wäre: nichts.
Als gelte es, eine zweite Nazidiktatur zu bewältigen
So füttert die Regierung den bequemsten, unbürgerlichsten, am wenigsten republikanischen Teil des Volkes. Den andern Teil lässt sie verhungern oder wirft ihn den Populisten zum Fraß vor. Dabei hat beispielsweise die Corona-Pandemie ein ganz anderes Volk gezeigt: Es war die Hochzeit der informierten Bürgerin, in Scharen hörten die Menschen Podcasts, sahen Informationssendungen, diskutierten, und sie nahmen bereitwillig die Zumutungen der Politik in Kauf. Nur zweimal war eine Mehrheit mit der Politik unzufrieden, und zwar weil die Pandemiemaßnahmen in ihren Augen nicht streng genug waren. Auch wenn alle wussten, dass die Politik in diesen beispiellosen Zeiten Fehler macht und der Stand der Wissenschaft sich oft nicht so schnell entwickeln konnte, wie die Viren mutieren, so akzeptierten und unterstützten die Bürgerinnen und Bürger doch mehrheitlich die Politik. Nun aber überlässt man es dem Narrensaum der Corona-Leugner und rechten X-Trolle, diese Zeit „aufzuarbeiten“, als gelte es, eine zweite Nazidiktatur zu bewältigen.
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