Ich packs hier rein, ist ja auch so eine Art Sammelbecken geworden der Fred.
Irgendwie sind all diese Interviews nicht alarmierend genug.
Intensivmediziner Karagiannidis fordert Boostern in Apotheken: „4000 Intensivpatienten werden es mindestens – auch mit 2G“
Christopher Stolz
11-13 Minuten
Herr Karagiannidis, wie ist die Lage auf der Intensivstation bei Ihnen in der Klinik?
Bei uns in der Klinik ist es zwar voll, aber es nicht so, dass wir überrannt werden mit Patienten. Da waren es in den ersten Wellen zu dem Zeitpunkt mehr, was daran liegt, dass wir in Nordrhein-Westfalen relativ hohe Impfquoten haben und die Kurve einfach verzögert ansteigt. Das sieht in Thüringen, Sachsen oder Bayern anders aus.
Nicht nur dort, sondern auch bundesweit steigt die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen seit mehr als einer Woche sprunghaft, mittlerweile um rund 10 Fälle pro 100.000 Einwohner am Tag. Am Sonntag und Montag kamen jeweils mehr als 200 Infizierte auf Intensivstationen hinzu. Was ist für Sie der Hauptgrund für diese Entwicklung?
Wir sehen schon zwei Gründe: Die Impfquote ist extrem gekoppelt an die Intensivbettenbelegung. Aber was wir auf den Intensivstationen sehen, ist, dass wir zum einen die jungen Ungeimpften haben – was wir aber auch sehen, ist, dass das Durchschnittsalter wieder ein bisschen nach oben gegangen ist in den letzten Wochen. Das liegt an den Impfdurchbrüchen bei den Älteren. Das heißt, wir bekommen zunehmend zwei Populationen, wobei die Ungeimpften noch überwiegen.
Wenn die Impfdurchbrüche sich also nun bemerkbar machen: Hat die Booster-Impfkampagne jetzt zu spät begonnen?
Ja, ich spreche mich sehr stark für den israelischen Weg aus, weil das Boostern nicht nur den Vorteil hat, dass man die Hochaltrigen vor der Intensivstation schützt, sondern auch den Vorteil, dass die Jüngeren das Virus nicht weitergeben. Das Boostern hat also einen signifikanten Einfluss auf den R-Wert. Wir hätten damit sicherlich schon viel früher beginnen können, aber wir brauchen ja auch die Ressourcen dafür. Und weil wir die Impfzentren abgebaut haben, brauchen wir jetzt Plan B.
Und Plan B wäre?
Meiner Meinung nach sollten die Apotheken so schnell wie möglich impfen. Deutschland ist das einzige Land in Europa, das ich so kenne, wo diese das nicht dürfen. Wir haben 25.000 Hausärzte in Deutschland und 18.000 Apotheken – wir könnten die Geschwindigkeit also sehr schnell erhöhen, wenn wir die Apotheken dazunehmen.
Sie glauben also, dass das Problem der zu niedrigen Impfquote durch noch niederschwelligere Angebote in Apotheken größtenteils gelöst werden könnte?
Gelöst ist das Problem damit nicht, aber es reduziert sich. Weil wir müssen daran denken, dass diese Welle erst im März oder April zu Ende geht – wir brauchen für Januar und Februar ja irgendeinen Strohhalm, an den wir uns klammern können. Ich habe heute wieder über 60-jährige Patienten gesehen, die mir gesagt haben, die kriegen erst im Januar einen dritten Impftermin bei ihrem Hausarzt – das ist normal. Deshalb müssen wir jetzt so schnell wie möglich auch in Apotheken boostern.
Sonst werden die noch nicht Drittgeimpften zum größeren Problem als die Ungeimpften?
Nein, das Boostern hilft uns zwar jetzt sehr, aber das große Problem bleiben die Ungeimpften.
„Wir fahren im Nebel ohne GPS“, sagten Sie zuletzt. Was könnte diese Entwicklung Ihrer Meinung nach jetzt stoppen?
Ich glaube, diese niedrigschwelligen Angebote sind mittelfristig das Entscheidende. Und dazu brauchen wir schnellstmöglich 2G und 3G am Arbeitsplatz. Im europäischen Umland hat das eine Menge gebracht, deshalb sollten wir das auch umsetzen.
Wir kommen Richtung großflächiger Priorisierung, da bin ich mir sicher.
Christian Karagiannidis
Was ist für einen Intensivmediziners derzeit „schnellstmöglich“?
Wir müssen schon diese oder nächste Woche flächendeckend reagieren. Ich sage jetzt nicht, dass Bremen unbedingt was tun muss, die haben ja extrem gut geimpft und sind der Herdenimmunität wirklich nah. Aber zumindest die Bundesländer, die sehr hohe Inzidenzen haben, die müssen reagieren.
Sie meinen Sachsen oder Thüringen, wo Mediziner bereits sagen, dass sich das Gesundheitssystem der Überlastungsgrenze nähert. Haben Sie Kontakt mit Kollegen von dort?
Wir stehen schon sehr viel in Kontakt und man merkt schon die Frustration durch emotionale Ausbrüche. Ich höre von ihnen, wie schlimm die Lage dort ist. Es dauert nicht mehr lange, dann greifen die Konzepte der strategischen Patientenverlegung. Viele Krankenhäuser sind ja schon raus aus ihrem Regelbetrieb.
Heißt also, es müssen demnächst die ersten Patienten aus Sachsen und Thüringen verlegt werden, weil dort kein Platz mehr ist?
Ja, das wird nicht mehr lange dauern. Ich habe mir die Kurven heute nochmal angeguckt – die gehen mir zu steil nach oben. Das wird nicht mehr länger als zwei, drei Wochen so gehen. Dadurch, dass Pflegepersonal fehlt, sind sie schon an einem früheren Zeitpunkt bei den gleichen Problemen wie in den letzten Wellen.
Sogar an der Berliner Charité werden nun geplante Operationen verschoben. Könnte es schon bald Triage-Entscheidungen geben?
Ich glaube, in die Situation, dass wir die Triage anwenden müssen, sollten wir nie kommen – das wäre eine Bankrotterklärung. Dafür haben wir noch zu viele Intensivbetten im Vergleich zu unserem europäischen Umland. Wohin wir kommen, ist so Richtung Priorisierung, das aber auch großflächig, da bin ich mir sicher.
Was heißt Priorisierung konkret?
Das heißt für eine Klinik wie unsere, die sehr gute Überlebensraten hat, aber auch nur eine begrenzte Anzahl an Betten, dass Patienten, die eine gute Prognose haben und jünger sind, auf der Liste höher stehen als multimorbide Patienten. Dass jeder in Deutschland alles mit gleicher Qualität bekommt, gibt es dann nicht mehr.
Alle Patienten werden gleichbehandelt – egal, ob sie geimpft oder ungeimpft sind.
Christian Karagiannidis
Einige Mediziner haben zuletzt ins Spiel gebracht, Geimpfte den Ungeimpften bei möglichen Priorisierungen zu bevorzugen, sollte es auf den Intensivstationen eng werden. Das käme einer Art Triage für Ungeimpfte gleich. Wie stehen Sie dazu?
Da wehre ich mich mit Händen und Füßen gegen. Alle Patienten werden gleichbehandelt – egal, ob sie geimpft oder ungeimpft sind. Das ist eine tiefrote Linie, die wir nie unterschreiten sollten.
Was passiert, sollte sich die Entwicklung fortsetzen, sieht man an Ihrem Prognosemodell. Stoppt die Inzidenz erst zwischen 250 und 300, drohen Intensivpatienten-Zahlen jenseits der 4000. Würde es dann schon großflächig die ersten Priorisierungen geben?
Ich glaube, die Priorisierungen gehen eher lokal los – zum Beispiel, wenn ich irgendwo Intensivmediziner bin, wo ich nicht ohne Weiteres verlegen kann. Hier in Köln fährt man ja alle fünf Minuten in ein Krankenhaus, aber es gibt ja Regionen im Osten oder im Südosten, da sind es dann mal 100 Kilometer bis zum nächsten großen Krankenhaus. Was uns schneller großflächig treffen wird, ist, dass Krankenhäuser wieder aus ihrem geordneten Betrieb rausgehen.
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Und wie lange dauert es dann, bis trotz des Fokus auf Covid-Patienten die nächste Belastungsschwelle erreicht ist?
Ich glaube, das wird schon eine ganze Weile helfen. Das sieht man an Ländern wie Frankreich, wo auch mal mehr als 50 Prozent der Fälle auf den Intensivstationen Covid-Patienten waren. Also rein theoretisch ist da schon noch Platz. Das größere Problem ist: Das Personal ist völlig durch – und die Bereitschaft, das zu machen, wird immer geringer.
Dass durch weniger Personal weniger Betten zur Verfügung stehen, ist ja ein Problem, das schon seit Beginn des Jahres bekannt ist. Hätte man dem früher entgegenwirken können, vielleicht monetär?
Nein, das glaube ich nicht. Das Geld hilft immer nur ganz kurzfristig. Das Entscheidende ist, die Arbeitsbelastung zu reduzieren – und das können wir nicht einfach von heute auf morgen. Das Problem liegt tiefer, die Wurzeln liegen nicht bei Covid. Die Pandemie hat das Ganze nur schlimmer gemacht. Und das dann während einer Krise zu lösen, das geht nicht. Damit müssen wir danach anfangen, sonst wird gar nichts mehr gehen in den nächsten zehn Jahren.
Ihrem Modell zufolge würde bei einem Stopp bei Inzidenz 400 ein neuer Höchststand an Corona-Intensivpatienten in der Pandemie erreicht – das wären dann fast 6000. Halten Sie diesen Peak denn wirklich für realistisch?
Das ist ganz schwer zu sagen, weil das Abflachen der Kurve durch eine Verhaltensänderung in der Bevölkerung kommt – und wir können nicht vorhersagen, ob und wann das passiert. Ich denke, es wird einige Regionen geben, da wird den Menschen mulmig werden. Wenn sie jeden Tag hören, die Inzidenz liegt über 300, dann hoffe ich sehr, dass sie ihr Kontaktverhalten ändern. Aber es wird auch Regionen geben, wie offensichtlich im Südosten, wo es die Leute nicht so sehr stört. Das ist aber etwas, was über Wochen schwer vorhersehbar ist und sehr regionalen Charakter hat.
Und für welche Schwelle wäre es selbst bei einer optimistischen Verhaltensänderung zu spät?
Die 4000 werden wir erreichen – das steht völlig außer Frage. Denn selbst wenn 2G bremst, wird das keine Vollbremsung werden. Eine Vollbremsung würde es nur geben können, wenn sich jetzt alle sofort impfen und boostern lassen. Denn einen Lockdown haben die Verfassungsrechtler ausgeschlossen.
Sie warnen schon seit dem Spätsommer, damals noch vor 3000 Intensivpatienten und mehr – die schon in dieser Woche erreicht werden dürften. Welche Impfquote welchen Einfluss auf den Intensivbettenbedarf haben kann, hätten sich die Politiker beispielsweise sogar schon seit August anschauen können. Fühlen Sie sich unerhört – sind Sie vielleicht sogar ernüchtert?
Ich glaube, die meisten haben unterschätzt, was auf uns zukommen könnte. Die Leute hatten keine Lust mehr auf Einschränkungen, was ja auch nachvollziehbar ist. Diese Diskussion mit den Inzidenzen war auch total kontraproduktiv. Ich habe immer gesagt, das wird die schwierigste Welle – aber man wollte es einfach nicht hören.
Welche Schlüsse ziehen Sie für sich daraus?
Das Schlimmste wäre, wenn wir jetzt anfangen, die Köpfe in den Sand zu stecken. Dann wird das System auch irgendwann instabil. Ich glaube, die neue Bundesregierung braucht einen sehr strikten Plan. Ich habe immer schon dafür plädiert: Es ist am besten, ich mache einen Plan für die nächsten sechs Monate, wie in jedem Unternehmen. Wenn man den frühzeitig kommuniziert, können sich die Leute darauf einstellen. Dann gibt es zwar auch Gemurre, aber dann habe ich was an der Hand.