Portrait der Ethikratvhefin Alena Buyx.
Gentechnik, Sterbehilfe, Corona – Alena Buyx berät die Politik bei den heikelsten Grundsatzfragen. Was sie sagt, löst oft Wut und Empörung aus. Wie geht sie damit um?
Von Malte Lehming
05.11.2021, 10:22 Uhr
Sie fliegt mit dem Fahrrad heran, die letzten Meter auf dem Bürgersteig, die blonden Haare wehen im Wind. Sie übernimmt die Regie, geht forsch voran, bestellt am Tresen den Kaffee für zwei, sucht einen Tisch aus und entschuldigt sich dafür, während des Gesprächs parallel an einer Videokonferenz teilnehmen zu müssen.
Schlag auf Schlag muss es gehen, von morgens früh bis spät in die Nacht. Ein Leben zwischen Dauerlauf und Sprint.
Alena Buyx ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Medizinerin, Philosophin, Soziologin, 44 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Es ist eine Stakkato-Biografie, die kaum Luft holen lässt. Sie hat in Harvard studiert, an der University of York und am University College in London. Sie wurde gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes, habilitierte sich in Münster, da war sie 35 Jahre alt, die Arbeit umfasste 800 Seiten. Sie war Professorin für Medizinethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, ist aktuell die Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität München. Sie pendelt zwischen Berlin und München, publiziert in Fachzeitschriften.
Es tobt die Joshua-Kimmich-Kontroverse
Ihre jüngste Studie, in diesem Fall als Co-Autorin, heißt „Ethical insights from the COVID-19 pandemic in Germany: considerations for building resilient healthcare systems in Europe“, sehr frei übersetzt: Was uns die Moral aus der Corona-Pandemie in Deutschland lehrt, um künftig in Europa besser gewappnet zu sein.
Nun sitzt sie da, aufrecht und zugewandt, in einem kleinen Café in Pankow, gleich daneben der alte Gemeindefriedhof und der Bürgerpark, ein Idyll. Es tobt die Joshua-Kimmich-Kontroverse. Der Fußballer vom FC Bayern München, ein Nationalspieler, hatte gesagt, dass er sich nicht gegen Corona habe impfen lassen, und seine Entscheidung mit fehlenden Langzeitstudien begründet. Buyx hatte erwidert, offenbar sei Kimmich einer „Falschinformation“ aufgesessen, außerdem habe er eine Vorbildfunktion. „Er ist ganz schlecht beraten“, so Buyx.
Der Fußballer vom FC Bayern München hatte gesagt, dass er sich nicht gegen Corona habe impfen lassen, und seine Entscheidung mit fehlenden Langzeitstudien begründet. © Sven Hoppe/dpa
Daraufhin brach in den sozialen Medien ein Wut-Gewitter über Buyx herein. Die Kimmich-Unterstützer – vom einfachen Fan bis zum aggressiven Querdenker – werfen Buyx vor, „stur“, „skrupellos“, „unmoralisch“ und „regierungshörig“ zu sein, sie sei eine „Oberlehrerin“ und eine „Schande für echte Humanisten“.
Solche Empörungswellen löst sie öfter aus, besonders nach Fernsehinterviews und Talkshow-Auftritten. Ihre Eloquenz reizt ihre Widersacher. Buyx wird gewissermaßen als oberste Moralinstanz in allen Pandemiefragen wahrgenommen. Ob Lockdown oder Impfreihenfolge, 2G oder 3G, Maskenpflicht in Schulen oder die Problematik der Triage: Was meint die Ethikratsvorsitzende? Für den Zorn von Impfgegnern, Lockdown-Verächtern und Corona-Verharmlosern bietet sie eine ideale Projektionsfläche.
Die Schärfe vieler Debatten bereitet ihr Angst
Trifft sie das? „Man lernt, damit umzugehen“, antwortet Buyx. Womit? Mit der „Zunahme an Gereiztheit“, die sich zumeist auf eine Person konzentriere; „der zunehmend ruppige Ton macht mir Sorgen.“
Die Schärfe und Brutalität vieler Debatten bereite ihr „wirklich Angst“, hatte sie in einem anderen Gespräch gesagt. „Toleranz, Akzeptanz, Pluralismus – das macht uns doch aus; dass wir uns zuhören, dass wir versuchen, uns gegenseitig zu verstehen!“ Der Raum zwischen den polarisierten Gegensätzen müsse wieder attraktiver werden.
Der zunehmend ruppige Ton macht mir Sorgen.
Alena Buyx
Mitte Oktober hatte das Wissenschaftsjournal „Nature“ erstmals Zahlen zu dem Phänomen veröffentlicht. Demnach hatten 15 Prozent der Wissenschaftler, die sich öffentlich zu Corona äußern, Morddrohungen erhalten, 22 Prozent der Befragten berichteten über Gewaltandrohungen. Buyx hatte die Studie auf Twitter weiterverbreitet und mit dem kurzen Kommentar versehen: „Wir haben ein Problem.“
Wie lösen wir das Problem? „Es ist sehr nachvollziehbar, wenn Menschen in dieser Krise verwirrt und von dieser Krise überfordert sind“, sagt sie. Wir befänden uns in einer „Situation dynamischer Unsicherheit“, noch immer sei der wissenschaftliche Kenntnisstand über die Pandemie unvollständig. Einerseits seien etwa die verfügbaren Impfstoffe „vermutlich die am besten erforschte medizinische Maßnahme aller Zeiten“. Andererseits habe es „offenkundig inkonsistente Regeln“ im Kampf gegen Corona gegeben.
Die Inzidenzen steigen, die vierte Welle nimmt an Fahrt auf
Am Dienstag saß sie bei Markus Lanz in der Runde. Die Inzidenzen steigen, die vierte Welle nimmt immer mehr an Fahrt auf, muss es nicht doch eine Impfpflicht geben? An sich ist Buyx dagegen. Der Ethikrat, das sagte sie vor einigen Monaten, habe zwar erklärt, dass unter bestimmten Umständen über solche berufsbezogenen, sehr eng begrenzten Impfpflichten nachgedacht werden könne. Sie selbst aber komme zu dem Ergebnis, dass diese Umstände nicht vorlägen.
Bei Lanz indes steht das Urteil nicht mehr ganz so fest. Die Impfung dürfe nicht nur als Privatsache gesehen werden, sagt Buyx. „Diese freie Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, hat Effekte auf uns alle.“ Allerdings müssten weitere Maßnahmen schrittweise und „so grundrechtsschonend wie möglich“ eingeführt werden.
Alena Buyx ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Medizinerin, Philosophin, Soziologin, 44 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. © imago images/IPON
„Als Wissenschaftler“, sagt Buyx, „irren wir uns empor.“ Das ist ein Satz, der im Gedächtnis bleibt, einer, in dem sich Hoffnung und Bescheidenheit die Waage halten.
Ihrem Verständnis für überforderte Mitmenschen steht allerdings ein resolut formuliertes Unverständnis für die gezielte Verbreitung von Desinformationen gegenüber. Das sei eine sehr „unangenehme und besorgniserregende“ Entwicklung, sagt Buyx. Viele Falschinformationen über Corona kämen von wenigen Ursprungsaccounts, von überwiegend ausländischen Trollfarmen, deren Ziel die Destabilisierung demokratischer Systeme sei. Dagegen müsse angegangen werden. Auch das gehört auf die Liste der Lektionen, die der Ethikrat während der Pandemie habe lernen müssen.
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Der Ethikrat. 24 Mitglieder hat er, Mediziner, Biologen, Theologen, Juristen. Sie werden zur Hälfte von der Bundesregierung, zur anderen Hälfte vom Bundestag vorgeschlagen. Seine oberste Aufgabe ist es, die öffentliche Debatte über ethische Themen zu befördern. Seine zweitoberste Aufgabe ist es, die Politik in ethischen Fragen zu beraten. Alle Mitglieder arbeiten ehrenamtlich.
Sie behandeln die großen Dinge, Ewigkeitsfragen
Einmal im Monat treffen sie sich, um über moralische Dilemmata zu reden. Bei der Gentechnik, der Sterbehilfe, der Organspende, der Stammzellforschung, bei Babyklappen, dem Tierschutz, der Ernährung. Und eben bei Corona. Es geht um Gerechtigkeit und Solidarität, partikulare und allgemeine Interessen, den Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen, um Ausgrenzung und Teilhabe. Die ganz großen Dinge, Ewigkeitsfragen.
Für das kleinste Übel zu votieren, ist eben immer noch fürchterlich.
Alena Buyx
Buyx ist wie geschaffen dafür, solche Kontroversen in die Öffentlichkeit zu tragen und dort auch auszutragen. Ihre philosophische Abschlussarbeit schrieb sie über Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen. Was tun, wenn es zu wenige Beatmungsgeräte für zu viele Kranke gibt? Wenn es weniger Intensivbetten als Bedürftige gibt. Wer hat Vorrang? Nach welchen Kriterien soll entschieden werden? „Einerseits war ich, als die Pandemie begann, auf die Struktur der ethischen Fragen durchaus vorbereitet“, sagt sie, „andererseits haben mich viele Dinge in der Praxis erst einmal total umgehauen. Darauf bereitet Sie kein medizinethisches Seminar vor.“
Ein wichtiges Kriterium in einer Triage sei die „direkte Überlebenswahrscheinlichkeit“ der Infizierten auf der Intensivstation. Je höher diese sei, desto besser könne der Anspruch auf ein knappes Gut begründet werden. Dennoch dürfe es kein Ranking geben, in tragischen Situationen bleibe immer eine Restschuld der verantwortlichen Entscheider.
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„Für das kleinste Übel zu votieren, ist eben immer noch fürchterlich“, sagt sie. „Egal was man macht, man kann nie allen gerecht werden.“ Viele Nächte habe sie nachts wach gelegen und darüber nachgedacht. Kann es wirklich sein, dass nicht alle ethischen Probleme lösbar sind?
Norman Daniels, ein amerikanischer Bio-Ethiker, der bis zu seiner Emeritierung 2017 an der Harvard University gelehrt hatte, war ein geistiger Mentor, eine „wichtige Prägung“, sagt Buyx. Daniels übertrug in seinen Arbeiten wesentliche Elemente der Gerechtigkeitstheorie des Klassikers John Rawls auf die Probleme einer gerechten Gesundheitsversorgung. Überhaupt, sagt Buyx, sei die Zeit in Harvard die beste Zeit ihres Lebens gewesen – „einmal abgesehen von der Zeit, in der meine Kinder geboren wurden“.
Sie schrieb schon vor der Pandemie über Aspekte der Corona-Krise
Vor fünf Jahren veröffentlichte Alena Buyx, gemeinsam mit der Politologin Barbara Prainsack, ein Buch mit dem Titel „Das Solidaritätsprinzip“. Auch darin werden Aspekte der Covid-19-Krise behandelt, ohne dass es sie damals schon gab. In Kapitel 7 über „Pandemien und Globale Gesundheit“ geht es um Fragen des Impfens und von Grundrechtseinschränkungen. „Völlig absurd“ komme es ihr vor, sagt Buyx, schon damals rein theoretisch über dieses Thema geschrieben zu haben.
Wir haben ausreichend Wohnraum, in unserer Familie war niemand schwer erkrankt, und ,Homeoffice‘ ist mein zweiter Vorname.
Alena Buyx
Und wie war es mit Kindern im Lockdown? „Wir hatten es leichter als sehr viele andere“, sagt sie, „wir haben ausreichend Wohnraum, in unserer Familie war niemand schwer erkrankt, und ,Homeoffice‘ ist mein zweiter Vorname, in der Wissenschaft sind wir es gewohnt, digital zu kommunizieren.“ Es sei eher die Gleichzeitigkeit von Homeschooling und Homeoffice gewesen, die die Kräfte von allen strapaziert habe.
Wie ist die Bilanz nach 20 Monaten Corona-Pandemie? Sie tue sich schwer, in der Rückschau einzelne Fehler zu identifizieren, sagt Buyx. Sie schaue lieber nach vorne. Ein Großteil der Deutschen habe sich diszipliniert verhalten, solidarisch, und zwar kontinuierlich. Das müsse viel öfter betont werden. „Darauf bin ich stolz.“ Der andere, kleinere Teil sei zwar zwischenzeitlich in der Öffentlichkeit sehr präsent gewesen, dann aber wieder geschrumpft. Ist sie auch darauf stolz? Sie lächelt.
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Reden, erklären, begründen: Nimmt der Ethikrat den Politikern nicht die Arbeit ab? Nur Regierung und Parlament, demokratisch legitimiert, können Grundrechtseinschränkungen verhängen, Lockdowns und Maskenpflichten beschließen. Müssen sie sich dann nicht auch der Öffentlichkeit besser erklären?
Kann Ethik in einer Pandemie national gedacht werden?
Buyx lehnt sich vor. Es ist eine Geste, die signalisieren soll, dass jetzt grundsätzliche Fragen geklärt werden sollen: Wir sitzen nicht am Kabinettstisch, wir sind nicht die Ethikpolizei, wir arbeiten in den meisten Fällen nicht im Auftrag der Politik, unsere Empfehlungen werden mal übernommen, mal nicht. „Ich werde nicht müde zu betonen, dass wir nur beraten.“
Die Impfung dürfe nicht nur als Privatsache gesehen werden, sagt Buyx. „Diese freie Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, hat Effekte auf uns alle.“ © Daniel Karmann/dpa
Und zwar auch nur die deutsche Politik. Aber kann Ethik in einer Pandemie national gedacht werden? Knappe Impfstoffe, fehlende Impfstoffe – wer sorgt für eine gerechte globale Verteilung? Nein, sagt Buyx, aus ethischer Perspektive sei es nicht möglich, sich auf den nationalen Kontext zu beschränken. Aber etwas anderes gebe das Mandat des Ethikrates nicht her, „wir beraten nicht die Weltgesundheitsorganisation“. Es müsse anerkannt werden, dass die Bundesregierung eine vorgeordnete Schutzverpflichtung gegenüber ihren Bürgern habe. Für Ethiker sei das „manchmal schwer zu schlucken“.
Vor zwei Wochen hat Buyx angekündigt, dass der Ethikrat im kommenden Jahr ein Papier zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie vorlegen wird. Es solle „keine anklagende Bestandsaufnahme werden, eher ein kritischer Ausblick“. Konkreter wird sie nicht.
Außerdem wirbt sie „für eine Art öffentlichen Heilungsprozess“. Erst nach und nach würden die sozialen und gesundheitlichen Folgen sowohl der Pandemie selbst als auch der Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung beschlossen wurden, offenbar.
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Es geht um Menschen, die viel verloren haben, sei es einen Angehörigen, den Job, die Lebensfreude. Es geht um Genesene mit Spätfolgen. Es geht auch um verpasste Urlaube, verpasste Abiturfeiern. Es geht um Kinder, Jugendliche, Alleinerziehende. Stehen der Gesundheits- und Lebensschutz absolut über allen anderen schutzwürdigen Gütern? Wer muss in einer Pandemie zu wessen Gunsten auf was verzichten? Es sind die Fragen, die Buyx vor Corona schon einmal beantwortet hat, theoretisch.
„Als Wissenschaftler irren wir uns empor“, hatte sie in dem kleinen Café in Pankow gesagt, in dem mittags eine Brokkoli-Möhren-Curry-Suppe serviert wird. Sich emporgeirrt zu haben: Das ist vielleicht die beste Überschrift über jeden und alle in der Coronakrise.